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Freitag, 20. Juni 2014

Textfragment Weisheit (eine wahre Begebenheit)

Das Beobachten ist kein Zeitvertreib, der Zufall kein Reinfall und Neugierde keine Todsünde. Treffen die drei aufeinander darf man Anteil nehmen am Leben anderer, ohne darauf Einfluss zu nehmen. Dann wird man Zeuge der kleinen Gesten deren große Wirkung den Protagonisten kaum ins Auge stechen, da sie aus einer Alltäglichkeit heraus ihren Ausdruck finden und unerkannt bleiben. Für den Beobachter hingegen werden genau diese Situationen zum Glücksfall, wenn es darum geht, etwas über das Leben zu lernen. In meinem Fall waren es drei Teenager, die mir in Sachen Weisheit Nachhilfe erteilten.

An Sommertagen schlendere ich gerne durch den Park. Ich freue mich über den Schatten der Kastanienbäume, bewunderte die Pracht der Blumenarrangements und lauschte der entspannenden Geräuschkulisse, dem Parksound sozusagen. Unverwechselbar ist diese natürliche Unruhe aus Vogelgezwitscher und dem Plätschern des Springbrunnens, die in mir Ruhe erzeugen und von Stille weit entfernt sind. Immer wieder mischt sich Kinderlachen mit dem Schnarren der Kieselsteine, das dem geschotterten Gehweg durch Fußgänger und Radfahrer entlockt wird. Das stetige Rauschen der alten Kastanienbäume wird erst durch das Einmischen der Menschen ereignisreich übertönt. Entfernt höre ich Stimmen. Jugendliche oder größere Kinder, die einander freundschaftlich zu necken scheinen. Die Töne werden unüberhörbar zu Worten, deren Sinn man erfassen kann, wenn man ihnen folgt, den Worten der Jugendlichen, die sich gerade über Schuhgrößen unterhalten.

Ich setze mich und dieser angeregten Unterhaltung ein wenig zu folgen. Ein Mädchen und zwei Jungen sitzen gedrängt auf einer Bank. "Was hast du für eine Größe? Zeig mal!" fordert das Mädchen und zerrt am Schuh eines Jungen im gelben T-Shirt, um die Nummer besser ablesen zu können. Unangenehm berührt wehrt sich der Junge und schimpft: "Lass das - die Schuhe sind mir eh schon zu klein!" Der Junge im schwarzen T-Shirt mischt sich ein und postuliert:" Ich hab 41er!" Das Mädchen wendet sich ihm zu und fragt:" Echt? Ich auch! Aber bist du nicht erst elf? Lass sehen!" Bereitwillig beweist der Junge in Schwarz seine Angaben und streckt dem Mädchen die Schuhsole entgegen. Scheinbar beeindruckt nickt das Mädchen bestätigend, wobei der Junge in Gelb ironisch einwirft:" Die sind aber klein geschnitten!" Ich betrachte die Füße des Jungen in Gelb und bemerke, dass seine offensichtlich kleiner sind als die der anderen, die nun stolz ihre Füße präsentieren. Der Junge in Schwarz verteidigt seine Angaben:" Alle meine Schuhe sind 41er! Bei den Feuerwehrstiefel hab ich sogar 42er!"

Das Mädchen selbst ist größer als die beiden Jungs und, wie sich im Zuge des Gesprächs herausstellt, um 2 Jahre älter als der Junge in Schwarz und ein Jahr älter als der Junge in Gelb. Beide scheinen von dem Mädchen angetan zu sein und buhlen um ihre Aufmerksamkeit, indem sie sich gegenseitig ihre Größe im Sinne von Maßen beweisen. Nach dem Motto: Der größere gewinnt, entspinnt sich zusehends an Kräftemessen, das unausgesprochen über das Gewinnen des Mädchens entscheidet. Es werden Beine vermessen sowie die Aussicht auf die mögliche Körpergröße im Erwachsenenalter mit ins Kalkül gezogen. Die Vererbungslehre als Garant für Wahrscheinlichkeiten reicht dem Mädchen nicht als Beweis. Vielmehr fordert sie den unmittelbaren Beweis in einer direkten Gegenüberstellung. Der Junge in Gelb beginnt sich zu zieren und versucht sich spielerisch aus der Affäre zu ziehen. Zu sehr hat man sich auf das Gewinnkriterium Größe eingeschossen sodass andere Beweise für das "Besser sein" als Untermauerung des Gewinnanspruchs ausgeschlossen werden. Das Alter, das zunehmend vom Jungen in Gelb ins Spiel gebracht wird, erweist sich als Schuss nach hinten, indem der Junge in Schwarz genau dieses Argument für sich beweiskräftig für seiner zukünftigen Größe auslegt. Schließlich sei er der Jüngste und so gesehen schuhgrößentechnisch mit Sicherheit der Gewinner.

Das Mädchen ist sich scheinbar ihrer Rolle bewusst und erprobt ihre Macht, indem sie mal dem mal dem mehr oder weniger Aufmerksamkeit schenkt, so als würde sie sich versichern wollen, das Spiel begriffen zu haben, dass mit aufkommender Vehemenz einen Gewinner sucht.

Der Junge in Schwarz gewinnt von Minute zu Minute an Selbstvertrauen und macht sich bereit für den direkten Vergleich. Der Jüngste erkennt für sich die einmalige Gelegenheit einen Sieg davon zu tragen, indem das Alter, das in diesem Alter eine wesentliche Rolle spielt, keine Rolle spielt. Triumphierend und den Gewinn, also das Mädchen vor Augen, steht er auf und positioniert sich. Sein Gegner hingegen versucht sich mittels Ablenkungsmanöver aus der Affäre zu ziehen um im selben Moment erinnert zu werden, dass das Zurückziehen einer Niederlage gleichkommen würde. Der Befürchtung, dass hier jemand sein Gesicht verlieren könnte, lässt die ausgelassene, unbeschwerte Stimmung kippen. Die anfängliche Leichtigkeit in Sprache und Gestik räumt das Feld und macht Platz für die aufkeimende Aggression die in ein Schlachtfeld eskalieren könnte. Die Situation ist aufgeladen und wartet auf Erlösung. Der Junge in Schwarz ergreift die Initiative und fordert seinen Kontrahenten zum direkten Vergleich heraus. Ausweglos wird um die optimale Position gerungen und dem Jungen in Gelb ist die Angst vor Gesichtsverlust förmlich ins Gesicht geschrieben. Hilflos wirkt das Geboxe und Hinweise wie :"He das ist unfair, du stehst auf einem Erdhaufen!" sind der letzte Versuch die mögliche Niederlage auf unfaire Wettbewerbsbedingungen zu schieben.

Nun schreitet das Mädchen ein. Bestimmend fordert sie beide auf, sich Rücken an Rücken auf die Bank zu stellen, die zumindest für faire Bedingungen sorgt. Sie Selbst bleibt am Boden und blickt nach oben. Es obliegt ihr, die Entscheidung über das Maß aller Dinge zu treffen. Augenscheinlich wird beim Erklimmen der Bank, dass der Junge in Schwarz den Jungen in Gelb um mindestens 5 Zentimeter überragen wird. Das Offensichtliche dürfte keinem der Dreien entgangen sein. Das Mädchen setzt 3 Schritte zurück und begutachtet die aufgebaute Situation. Mit ernster Miene bestätigt sie:"Eindeutig - für mich seid gleich groß!"

Beide springen von der Bank. Die Situation entspannt sich bereits während des Sprungs und beide landen erleichtert. Sofort wird das Thema gewechselt. Von Größen will keiner mehr etwas wissen und im Davonjagen Richtung Spielplatz wird der Schauplatz geklärt zurückgelassen.

Verwundert über meine Beobachtung bleibe ich sitzen. Beeindruckt lasse ich die erlösenden Worte in mir wirken. Eine Wirklichkeit der Situation hätte vermutlich dicke Luft bedeutet, eine andere, die genauso den Anspruch an Wahrheit erhebt, den Frieden. Ich habe den Eindruck ich wurde Zeuge einer salomonischen Entscheidung - getroffen durch ein 13jähriges Herz mit viel Verstand.





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