Ich habe soeben
eine Grenze überschritten. Ihre Grenze! Mit meinem ersten T durchdrang das
Schwarz des ersten Buchstabens Ihre Netzhaut. Ich dringe mit jedem meiner Worte
in Sie ein. Mein Satz wird von Ihrem Gehirn ausgewertet. Es versucht etwas zu
erfassen, ein Bild zu generieren, von dem was Sie hier zu erlesen versuchen.
Dieses Bild wird auf Relevanz überprüft, einem Bewertungskanon unterworfen.
Vielleicht haben Sie jetzt schon eine Hypothese im Kopf, eine Vorahnung von
dem, was Sie, sofern sie mich noch ein Stück weiter in Sich eindringen lassen,
lesen werden. Nutzen Sie die Möglichkeit, jederzeit aus diesem Text
auszusteigen und fragen Sie sich dabei, welche Grenze Sie überschreiten müssen,
um mich aus Ihrem Denken zu bringen, denn da bin ich bereits! Vielleicht fühlen
Sie sich verpflichtet, Ihrem Auftrag der Textbewertung zu folgen und alles bis
zum bitteren Ende durchstehen zu müssen. Überschreiten Sie die Grenze Ihres
Pflichtgefühls, wenn Sie merken, dass dieser Text nichts für Sie ist und legen
Sie ihn einfach beiseite.
Ich bin
unanständig und werde Sie ab jetzt Duzen. Die Grenze des Anstandes
überschritten, erwarte ich nicht Deine Einwilligung. Ich tu es einfach. Dein
Weiterlesen zwingt Dich dazu, dieses Du – sofern Du es für unangemessen hältst
– auszuhalten. Ich verwende die Nähe, die ich mir genommen habe, um mit Dir
gemeinsam in der Begrenztheit der Zeilen überschreitend zu werden.
Ich gestehe, ich
mache mich in Dir breit. Ich erschließe mir meinen Raum in Dir, ohne darauf zu
achten, was ich in Dir an oder umstoße. Ich pflanze mich in Dir ein, ohne, dass
Du es mir erlaubt hast. Deine Gedanken, die durch mich in deinem Kopf aufkeimen,
entstammen meiner Aussaht. Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, Dich als
Nachbarn zu haben. Ich betrete Dein Grundstück um auf Deinem Rasen mein Beet
anzulegen. Ich würde mit dem Spaten die Erde auf einer Fläche von 3 x 4 m
lockern und meine Blumenzwiebelvariation vergraben. Würdest Du mich anzeigen?
Schadenersatz für den Rollrasen fordern? Vermutlich. Und gleichzeitig lässt Du
das gerade in deinem Kopf zu. Ich verstehe wenn Du jetzt denkst, Stilblüten im
Kopf unterscheiden sich grundlegend von Deinen Tulpen in meinem Gärtchen auf
Deiner Wiese: Sind die Zwiebel erst ausgegraben und der Rollrasen neu verlegt,
ist es so, als wäre nie etwas gewesen…
Liest Du noch?
Ich nehme an, dass Du mir weiter Deinen Kopf zur Verfügung stellst. Gleichzeitig
will ich mir Zugang zu dem Ort verschaffen, an dem Du Deine Emotionen lagerst. Das
geht zu weit? Dann hör jetzt auf zu lesen! Leg den Text zur Seite und wende
Dich den Texten zu, die du aus deiner Komfortzone kennst! Du brauchst es
einfacher? Mach es Dir einfach! Lies den Heimattext zum Hirnausschalten oder befriedige
Deinen Voyeurismus unter zu Hilfenahme einer ach so tragischen Biographie. Ich
verstehe, wenn Dir aus Deinem Wunsch nach Komplexitätsreduktion heraus, mehr
nach Einleitung, Hauptteil, Schluss ist. Dort darfst Du Dein Stilempfinden
auspacken, ausbreiten und herumbewerten. Du brauchst Dich nur aus Deiner
Selbstverliebtheit heraus zu fragen: Gefällt mir das? Liest sich das flüssig?
Wenn Du Glück hast, darfst Du dich über einen Rechtschreibfehler alterieren,
ein bisschen gnädiger Richter spielen und Dich insgeheim über die
Hausfrauenpoesie lustig machen. Natürlich nur insgeheim. Alles andere wäre respektlos
und überraschend mutig. Und an Mut fehlt es Dir gerade, wenn Du mit dem
Gedanken spielst, mich beiseite zu legen. Empören Dich meine Worte? Nein? Dann
bist Du unaufmerksamer als ich dachte!
Ich freue mich,
dass Du dieses Wort noch liest! Offensichtlich ist Deine Geduld grenzenlos. Sofern
Du meinen Text nicht in Papierform vor dir liegen hast, drucke die Seiten jetzt
aus. Du hast genug davon, dass ich Dir sage, was Du zu tun hast? Papier ist
geduldig – Du scheinbar nicht! Folge mir ein letztes Mal über Deine Grenze – es
wird die letzte sein, die ich Dich überschreiten lasse!
Lege die erste
Seite mit der Überschrift Textfragment Grenze hochkant vor Dich hin. Falte nun
die linke Oberkante zur rechten Oberkante und die linke Unterkante zur rechten
Unterkante. Ziehe mit dem Fingernagel einen Falz und klappe die Seite wieder
auf. Du hast nun in der Mitte eine gut erkennbare Linie. Falte nun die linke
wie die rechte Oberkante zu dieser Linie hin – so, dass eine Spitze entsteht.
Nun klappst Du das Blatt wieder zusammen. Drehe das Konstrukt so zu Dir, dass
die längste Seite Dir am nächsten ist und die Spitze nach links zeigt. Klappe
nun die Tragflächen des Papierfliegers nach unten und wiederholde den Vorgang
auf der Rückseite. Geh jetzt zum Fenster. Öffne es und lass ihn fliegen.
Beobachte, wie er durch Luftwirbel getragen, fliegt. Vergegenwärtige dir, dass
Du aus Deiner Begrenztheit heraus nie im Stande sein wirst, aus eigener Kraft
heraus diesen Moment des Schwebens zu erleben. Und sei Dir dabei im Klaren,
dass Du für einen Moment die Grenzen der Schwerkraft außer Kraft setzt und ihn
fliegen lässt!
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