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Samstag, 1. März 2014

Textfragment Stammbaum

Über den Gartenzaun betrachtet erscheint das, was geschieht, als logische Konsequenz von harten Wirklichkeiten. Im Sinne der Sicherheit, vielleicht aus der Notwendigkeit heraus, Platz zu schaffen um Neues entstehen zu lassen, beobachtet man Menschen, wie sie sich emsig ans Werk machen um aus der "Zaunlattenkausalität" heraus ihr Tun folgen zu lassen. Über den Gartenzaun hinweg entstehen Hypothesen darüber, was wohl daraus entstehen mag. Vielleicht stellt sich im Beobachter das Gefühl der Erleichterung ein. Das Risiko, welches augenscheinlich stets im Blickfeld der neugierigen Aufmerksamkeit stand, wird endlich beseitigt. Und das noch genau so, wie man es erwartet und empfohlen hätte, wäre man gefragt worden. Vielleicht ist der Hauch des Windes nichts anderes als das Durchatmen der sich lösenden Situation. Nicht mehr als ein flüchtigen "Na endlich". Der betrachtende Blick wird lediglich irritiert vom Ausdruck der Gesichter der Akteure, die weder Enthusiasmus, Vorfreude, ja nicht einmal Gleichgültigkeit erkennen lassen. Es ist vielmehr ein wortloses Klagen, welches die Szenerie fahl erscheinen lässt. Das Zwielicht wirft den Schatten der Trauer bis hin zur Grenze des Grundstücks. Jeder Handgriff ist andächtig und erinnert vielmehr an ein spirituelles Ritual als an gewöhnliche Gartenarbeit, die über den Gartenzaun hinweg betrachtet, verrichtet wird.
Ich stehe im Garten. Ich verschränke die Arme um mich nicht an dem beteiligen zu können, was im hier und Jetzt geschieht. Der Moment, an dem der erste Ast meiner Kindheit fällt, durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag. Ich ringe nach Fassung. Ich suche in mir nach Halt und Geborgenheit, die unmittelbar vor mir ächzend zu Boden kracht. Ich bin Zeuge der sukzessiven Demontage von Erinnerungen. Die Anwesenheit allein war jener Kontext, der fünf Menschengenerationen miteinander verknüpfte. Die Abwesenheit jener, die bereits gegangen sind, wurde durch das Wahrnehmen dieser übergreifenden Verbindung, aufgehoben. Der gespendete Schatten wurde zum erlebbaren Moment, der einen Eindruck davon vermittelte, wie es sich vor 50 Jahren vielleicht anfühlte darunter zu liegen, um der Hitze zu entfliehen. Ich stelle mir vor, wie der Blick meiner Urgroßmutter genau an jenem Stamm entlang wanderte, den ich gerade noch tränenverwaschen vor mir erahne. Mein Vater hat vermutlich wie ich als Kind versucht, den höchsten noch erkletterbaren Punkt zu erreichen um sich aus der kindlichen Kleinheit heraus sich im Erklimmen richtig groß zu fühlen. Ich rieche den Apfelstrudel meiner Großmutter. Jetzt beobachte ich meine Tochter, wie sie den abgeschnittenen Ast neugierig befühlt. Was hier gefällt wird ist nicht die harte Wirklichkeit, der tote Baum. Es ist das, wofür er steht, was mich zu Tränen rührt. Der Stammbaum meiner Familie.
Morgen werde ich hinter den Zaun treten. Ich will sehen, was der Beobachter sehen kann. Gänzlich unbeeindruckt von der weichen Wirklichkeit, die ausschließlich innerhalb der Grundgrenze wahrnehmbar ist, ist es ein Ausblick auf das, was zukünftig hinter dem Zaun entstehen kann. Ich will einen Blick auf die Zukunft werfen, die im Morgen beginnt und im Übermorgen zur Vergangenheit wird. Vielleicht pflanze ich einen Baum. Mal sehen...

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