In jungen Jahren lagen die Kinder- und Hausmärchen der
Gebrüder Grimm zu nahe an der eigenen kindlichen Realität. Beeinflusst durch mein magisches Denken schaffte das "Es war
einmal"nicht den nötigen Abstand, um nach der Lektüre
seelenruhig einschlafen zu können. Der Schlusssatz "und wenn sie nicht
gestorben sind, dann leben sie noch heute" war mir Beweis genug, dass all
das, was mir wenige Zeilen zuvor vorgelesen wurde, im Jetzt existent sein
könnte. Dieser Umstand bescherte mir Gewissheit, dass es sich bei Märchen um
wahrheitsgetreue Nacherzählungen handeln musste, die genau das beschrieben, was
sich tatsächlich in diversen Hexenhäusern und dunklen Wäldern zutrug. Wie könnte es auch anders sein,
wenn irgendwo der Prinz noch immer die Prinzessin küsst, sofern sie nicht
gestorben sind…
Keiner konnte mir glaubhaft versichern, dass die Hexe das
zeitliche segnete. Schließlich war sie im Stande ein Haus aus Kuchen zu bauen!
Da dürfte es ein leichtes für sie gewesen sein, unbemerkt aus dem Backofen zu
entkommen um anderenorts – vielleicht ganz in meiner Nähe, weiter ihr Unwesen
zu treiben, indem sie Naschkatzen wie ich es war, in die Falle zu locken. An
meine Angst vor Wölfen mag ich heute noch nicht denken! Oft genug wurden mir seine
Brüder im Tierpark vorgeführt. In Anbetracht der Überreste diverser
Wolfsmahlzeiten war mir als Kind klar, dass der 7-Geislein-verspeisende Wolf
nicht aus seiner Art geschlagen war, sondern in Herberstein seinesgleichen
finden würde. Meine kindliche Überzeugung bescherte mir so manch schlaflose Nacht, in
der ich stark schwitzend unter der Bettdecke mein frühzeitiges Ableben
herannahen hörte, wenn meine Mutter an meinem Zimmer vorbei schlich.
Mein eigenes Leid als Kind vor Augen und dem Drängen meiner
Tochter nachkommend, machte ich mich auf die Suche nach Märchen, die in mir
keine, von Angst geprägten Kindheitserinnerungen wachriefen. Ich schlug das
Märchenbuch auf und wurde fündig: Die Brehmer Stadtmusikanten!
Ich erinnerte mich daran, dass dieses Märchen spurlos an mir
vorüber gegangen war. Nichts in meiner Erinnerung erzeugte Gänsehaut. Im
Gegenteil – für mich waren die Brehmer Stadtmusikanten eine hervorragende
Möglichkeit, seelenruhig einzuschlafen. Keine Zeile brachte mein kindliches Leben in Gefahr. Gänzlich unbeeindruckt schlief ich regelmäßig darüber ein, denn alte Tiere die ausrangiert werden, hatten mit meiner damaligen Vorstellung von Gefahr nichts zu tun.
Entspannt begann ich zu lesen, wissend, dass keine Hexe in
meiner Fantasie wiederauferstehen würde. Das vertraute "Es war
einmal" ging leicht von den Lippen und ich sah den nächsten 15 Minuten des
Vorlesens entspannt entgegen. Nach dem ersten Absatz, indem die Flucht des
alten, unbrauchbaren, kostenintensiven, leistungsschwachen Esels
beschrieben wird, stieg in mir ein äußerst beklemmendes Gefühl hoch. Ich dachte, es sei meine altbekannte Märchenphobie und las
tapfer weiter. Ein nutzloses Tier folgte dem nächsten und mit jedem Schicksal
wurde in mir das Bild, das mir auf dem Herzen lag, klarer: Dieses Märchen lag
verdammt nahe an meiner Erwachsenenrealität!
Ständig wurde ich an Geschichten aus meiner unmittelbaren
Umgebung erinnert, in denen sich einstige Helden von der plötzlich eigenen
Nutzlosigkeit erschüttern ließen. Vieles von dem, was in den wenigen Zeilen
beschrieben wurde, füllt Protokollseiten diverser Beratungsstellen und
Gerichtsakten die das Abwehren des unausweichlichen „weg mit dir!“
dokumentieren.
Ausgemustert und als Kostenstelle untragbar zu werden, weil
die eigene Leistung im Auge des Controllers in keinem wirtschaftlichen
Verhältnis zu der jahrzehntelang erarbeiteten Gehaltsstufe stände, befördert
eine ungemütliche Wahrheit zu Tage! Nämlich, nicht bis zur Bahre das Letzte
geben zu können. Im Unterschied zu den Brehmer Stadtmusikanten gibt es statt
dem Happy End ein tragisches Schicksal, dass sich in der herannahenden Zukunft
in einer Senioreneinrichtung erfüllt.
Meine Angst vor dem eigenen Alt-werden stieg in mir empor.
Wie wird das einmal sein? Wie lange kann ich meinen Beruf, den ich über alles
liebe und der mir meinen Sinn verleiht, ausüben? Was mache ich, wenn ich darauf
hingewiesen werde, meinen Platz zu räumen, um Raum zu schaffen für jene, die
zukünftig die gewünschte Leistung zum halben Preis bringen? Muss ich mich auch
zum Teufel scheren, um nicht auf der Schlachtbank zu landen? Und was geschieht
mit mir, wenn ich ausschließlich Kosten verursache und keine andere Leistung
mehr erbringen kann, als selbständig die Toilette aufzusuchen? Trotz meines
musikalischen Talents, das jeden in die Flucht schlägt, frage ich mich, ob ich
jemals so flexibel sein werde, um mein Leben, reich an Jahren, noch einmal auf
den Kopf zu stellen? Habe ich das Zeug zum Brehmer Stadtmusikanten?
Auf halber Textstrecke war ich gänzlich in Fragen
verstrickt, die meine eigene Zukunft oder vielmehr die Angst davor, betrafen.
Mein Vorlesen verlor jegliche Spannung und litt massiv unter meinen
bedrückenden Zukunftsvisionen. Meine Tochter blickte meinem Vortrag
offensichtlich überdrüssig, an mir hoch und meinte bestimmt:" Das Märchen
ist langweilig! Lies etwas Spannendes!" Ich sah sie im ersten Moment
verstört an und erfüllte ihr den Wunsch umgehend. Sollte sie sich doch ein
wenig vor der Hexe fürchten - die Angst vor den Brehmer Stadtmusikanten kommt
früh genug und hält an, bis zum bitteren Ende!
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