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Dienstag, 11. Februar 2014

Textfragment Märchen

Als Kind lagen die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm zu nahe an meiner kindlichen Realität. Das "Es war einmal" schaffte nicht den nötigen Abstand, um nach der Lektüre seelenruhig einschlafen zu können. Der Schlusssatz "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" war mir Beweis genug, dass all das, was ich zuvor gelesen hatte, im Jetzt noch irgendwo, vielleicht sogar in meiner unmittelbaren Nähe, stattfindet. Niemanden ist es gelungen, mich davon zu überzeugen, dass die Hexe trotz Verbrennungen unendlichen Grades nicht doch überlebt hatte und jetzt weiter ihr Unwesen treibt. Schließlich war sie ja eine Hexe! Und der Wolf, der in den Brunnen fiel? Diese Verunsicherung bescherte mir so manch schlaflose Nacht, stark schwitzend unter der Bettdecke. Mein eigenes Leid als Kind vor Augen und dem Drängen meiner Tochter nachkommend, machte ich mich auf die Suche nach Märchen, die in mir keine, von Angst geprägten Kindheitserinnerungen, wachriefen. Ich schlug das Märchenbuch auf und wurde schnell fündig. Die Brehmer Stadtmusikanten! Ich erinnerte mich daran, dass dieses Märchen gänzlich spurlos an mir vorüber gegangen war. Der Inhalt kann wie folgt zusammengefasst werden: ausrangierte, alte, nutzlose, ineffiziente Tiere werden mit dem Tode bedroht, fliehen und schließen sich zu den Brehmer Stadtmusikanten zusammen um am Ende die bösen Räuber zu überlisten. Entspannt begann ich zu lesen, wissend, dass keine Hexe einen "Scheintod" erleiden würde. Das vertraute "Es war einmal" ging leicht von den Lippen und ich sah den nächsten 15 Minuten des Vorlesens entspannt entgegen. Nach dem ersten Absatz, in dem beschrieben wurde, wie der alte, nutzlose Esel, der seine Aufgaben nicht mehr in der gewohnten Qualität erfüllen konnte und somit zu Wurst verarbeitet werden sollte, vom Hof floh, stieg in mir ein beklemmendes Gefühl hoch. Ich dachte, es sei meine alte Märchenphobie und las tapfer weiter. Ein ausrangiertes Tier folgte dem nächsten und mit jedem Schicksal wurde in mir das Bild, dass mir auf dem Herzen lag, klarer. Dieses Märchen lag zu nahe an meiner erwachsenen Realität. Ständig assoziierte ich mit meiner Umwelt, mit meinen Beobachtungen. Meine Angst vor dem alt und gebrechlich werden stieg in mir empor. Wie wird das einmal sein? Wie lange kann ich meinen Beruf, den ich über alles liebe und der meinem Leben Sinn verleiht, ausüben? Was mache ich, wenn ich einmal in Pension gehe? Brauche ich einen Zusatzjob, um mir das Leben als Pensionistin leisten zu können? Habe ich das Zeug zum Brehmer Stadtmusikanten?
Auf halber Textstrecke war ich gänzlich in Fragen verstrickt, die meine Zukunft betrafen. Mein Vorlesen verlor an Spannung  und litt massiv unter meinen ausschweifenden Gedanken. Meine Tochter blickte gelangweilt an mir hoch und meinte bestimmt:" Mama, mir ist fad! Lesen wir Hänsel und Gretel? In der Geschichte passiert nichts Grusliges!" Ich sah sie an und erfüllte ihr den Wunsch. Sollte sie sich doch ein wenig vor der Hexe fürchten - die Angst vor den Brehmer Stadtmusikanten kommt früh genug!

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