Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 14. Januar 2014

Textfragment Rat

Wir sitzen beisammen. Regelmäßig bringe ich mich in diese konfrontierende Position, um, so wie es der gemeinschaftliche Tenor verlangt, mich mit den Anwesenden auszutauschen. Der Tisch, die allseits beliebte Barriere, die gelegentliche Nähe dank der räumlichen Distanz unterbindet, ist hübsch dekoriert und bietet allerlei Köstlichkeiten um nicht immer auf alles antworten zu müssen. Ich habe vergessen, was ich sagen wollte. Eigentlich bin ich zu unaufmerksam um mich am Gespräch beteiligen zu können. Ich höre hin und schon lange nicht mehr zu. Zu oft habe ich diese Endlosschleifen an Klagen übers Wetter vernommen, die ich mit meinem halben Ohr nur fragmentarisch erfasse. Jedes meiner restlichen Sinnesorgane ist bereits darauf geschärft zu erkennen, wer sich von den heute Anwesenden opfert, um vom Elend seiner Existenz zu berichten.  Dieses unausgesprochene Gesetz verpflichtet jeden dazu, diese Qual über sich ergehen zu lassen, wenn er weiterhin am gut gemeinten Ratschlagen  teilnehmen möchte. Ich wette, alle warten nur darauf, um endlich loslegen zu können! In der letzten Zeit haben einige gute Ratgeber gelesen. Diese Information wird in das vorherrschende Gespräch über die Wetteraussichten eingeschleust um vielleicht früher als später jemanden aus der Reserve zu locken. Denn wenn Experten zu Gast sind und ungefragt ihre Meinungen kundtun, dann hat das Opfer einen Mehrwert zu erwarten, der mit keiner Dankbarkeit aufzuwiegen wäre. Höchstens mit einem Kompliment, das die umfassende Weisheit des selbsternannten Beraters unterstreicht. So wie der Köder ausgeworfen wurde, beißt niemand an. Vermutlich ahnt jeder was heute am Programm steht, wenn der Gruppenzwang den Selbstschutz bezwingt und man bezwungen beginnt, seinen Leid zu offenbaren. Um die Zwischenzeit zu überbrücken wird über diejenigen beratschlagt, die heute nicht anwesend sind. Es wird vermutet und gewusst, welches Schicksal das Fernbleiben herbeigeführt hat. Einvernehmlich wird bedauert, dass der Abwesende seine Chance verpasst, sein Leben unter ihrer Anleitung zu verändern. Gleichzeitig ahne ich, dass ein schwer angeschlagenes Opfer diesen Tisch nur in selbstmörderischer Absicht verlassen könnte. Um dieser Besserwisserei Stand zu halten, bedarf es einer psychischen Konstitution, wie sie einem Geheimagenten abverlangt wird, der selbst unter Folter kein Geheimnis verraten darf. Frustration schleicht sich ein. Selbst ich bin enttäuscht, da ich befürchten muss, meinen Voyeurismus an dieser Stelle nicht mehr befriedigen zu können. Ich bemerke, wie das Gespräch verebbt und die Sätze in ihrer Einsilbigkeit in die bodenlose Sinnesleere stürzen. Ich werde meine Jacke holen und unter einem Vorwand das Weite suchen. Schließlich bin ich nur gekommen um diesem nicht stattfindenden bizarren Schauspiel beizuwohnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen