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Mittwoch, 22. Januar 2014

Textfragment Mehr

Ich bin derzeit schiffbrüchig. Mein Schiff ist nicht gekentert. Ich bin freiwillig und voller Hoffnung ins Mehr gesprungen. Sehnsüchtig habe ich es mir immer wieder, an der Reling stehend, vorgestellt, wie es für mich wäre, in dieses Mehr einzutauchen, um aus eigener Kraft neue Ufer zu erreichen. Ich träumte von Inseln, die mich ernährten und mich, ohne zu fragen woher ich gespült wurde, freundlich aufnahmen. Ich war in meinen Gedanken Gulliver, der durch seine Andersartigkeit zum Heilsbringer wurde. Ich habe mich darauf verlassen, dass ich, nachdem ich mich über Wasser halten konnte, bestimmt ankommen würde.
Der Sprung ins Mehr verlangte Überwindung, die ich erst nach Jahren des Träumens aufbrachte. Gerade erst angeheuert, habe ich zum ersten Mal das Mehr erblickt. In diesem Moment keimte in mir das Verlangen, irgendwann selbst einzutauchen. Ich begann mein Leben als Schiffsjunge und das Schiff bot mir Heimat und die Aussicht auf das Mehr gleichermaßen. Ich durfte lernen, mit den Tücken des Mehres umzugehen. Sicher auf dem Schiff geborgen,  konnte ich so vieles beobachten, von dem ich dachte, dass es mir mein eigenes Springen und Schwimmen einmal erleichtern würde. Ich habe gesehen, wie andere sprangen und zielsicher die Ufer, von denen sie glaubten sie erreichen zu müssen, erreichten. Ich sah Männer in Fässern, die ziellos trieben und offensichtlich vergessen hatten, dass sie die Ruder, die sie in Händen hielten auch benutzen konnten. Ich sah die Leichen, die ertrunken waren und andere, die das Treiben schlicht satt hatten und auf dem Schiff anheuerten um dann von ihrer abenteuerlichen Reise in den buntesten Farben erzählten. Ich hörte ihnen so gerne zu und vergaß, dass sie sich im selben Boot befanden wie ich selbst. Im Laufe der Zeit glaubte ich zu wissen, wie man das Mehr überlebt und genau dort ankommt wo man hin will. Ich war überzeugt, aus den Fehlern der anderen gelernt zu haben und über das zu verfügen, dass denen, die es geschafft hatten, das Überleben sicherte. Ich war mir so sicher, ohne jemals selbst auch nur einen Zehen ins Mehr getaucht zu haben. Irgendwann war ich soweit. Ich stand an der Reling und sprang. Ich tauchte ein und die Bugwellen des Schiffs brachen über meinem Kopf. Ich hatte keine Angst zu ertrinken. Der Umstand, aus dem Mehr heraus die Orientierung zu verlieren machte mir eher zu schaffen. Aus dieser Perspektive hatte ich das Mehr noch nie erlebt. Alles schien so weit entfernt und ich fand keine Möglichkeit, mir einen Überblick zu verschaffen. Ich entschloss mich, dem Schiff zu folgen, um zumindest von der Strahlkraft der Lichter zu profitieren, die den Horizont für mich ausleuchteten. Ich begriff sehr schnell, dass das Mitschwimmen an meiner Kraft zehrte, dass ich mit Hohn und Spott bedacht wurde, von jenen, die jetzt an der Reling standen und glaubten zu wissen, wie es ist im Mehr zu schwimmen und wie man nicht untergeht, wenn die Bugwellen einen unter Wasser ziehen. Ich gab es auf, dem Schiff zu folgen. Ich genoss den Moment der Ruhe. Ich schenkte meinen Armen ruderfreie Zeit, damit sie sich erholen konnten. Ich orientierte mich neu, indem ich feststellte, dass alles was ist glaubte über das Mehr zu wissen, ein Schiffswissen war, mit dem ich - im Mehr angekommen - nichts mehr anfangen konnte. Ich fasste Vertrauen zu dem neuen Element, das mich umgab.
Jetzt treibe ich mich herum ohne Boden unter den Füßen. Ich genieße die Schwerelosigkeit und das Mehr, dass mich umgibt. Ich kann umtriebig sein, mich treiben lassen, untertauchen, auftauchen. Mir ist klar, dass ich aus meiner Mehrzeit meine Lehrzeit machen werde ohne dem Irrtum zu verfallen, dass ich aus der Mehrzeit etwas über Inseln lerne, die ich gerade antreibe.

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